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Geschärfter Glaube
Sonntag, 05. Mai 2019, 05:25 Uhr
Jedes Ding hat zwei Seiten. Diese allgemeine Regel bestätigt sich auch da, wo man eigentlich keine Alternative vermutet. Nach der Friedlichen Revolution schien es zur lang ersehnten Demokratie keine Alternative zu geben. Schließlich versprach und brachte sie Freiheit in fast allen Lebensbereichen. Was wollen wir mehr? Das ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass die Freiheit eine unübersehbare Fülle an Möglichkeiten bietet. Eine Auswahl ist schwer. Es kommt hinzu, dass kaum jemand wagt oder sich autorisiert fühlt, eine Wertung dieser Fülle an Möglichkeiten vorzunehmen. Wenn alles gleichwertig nebeneinander steht, wenn alles gleich gültig ist, ist möglicherweise auch alles gleichgültig? Vielleicht ist es gleich gültig, ob wir nicht auch in einer gelenkten Demokratie leben könnten, die uns manche Entscheidung abnähme? Oder vielleicht ist es gar gleichgültig, ob jemand Fremdenhass schürte, weil jeder sagen darf, was er will?
Ich meine, damit würden wir es uns zu leicht machen. Zum Glück haben die meisten Menschen einen inneren Kompass, der ihnen sagt, was gut oder böse ist. Aber müssen wir diesen nicht immer wieder schärfen? Die Geschichte hat uns gelehrt, dass den Menschen ohne diese Schärfung Unheil drohen kann. Umso mehr habe ich mich gefreut, als mich mein fünfzehnjähriger Enkel neulich fragte: Oma, warum glaubst du an Gott? Er brachte mich damit beinahe Verlegenheit. Doch ich war durch den Atheismus in der DDR von Kindesbeinen an daran gewöhnt, um eine Antwort darauf nicht verlegen sein zu müssen. Ich schrieb ihm Einiges dazu auf. Ganz wichtig war mir dabei, dass es nicht reicht, sich mit seinem Glauben im Kämmerlein einzuschließen und an seinen privaten Gott zu glauben. Nur in der Gemeinschaft mit anderen Glaubenden bleibt mein Glaube lebendig und geschärft. Mit einem lebendigen Glauben habe ich dann das Rüstzeug, verantwortlich die Möglichkeiten abzuwägen, die mir die Demokratie bietet.
Gisela Zeh
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