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Gemeindeleben kontra reine Statistik

Montag, 16. Januar 2023, 09:09 Uhr
Wöchentliche Andacht beispielsweise in Woffleben (Foto: F. Wenderoth) Wöchentliche Andacht beispielsweise in Woffleben (Foto: F. Wenderoth)
(re) Große Nähe antwortet auf kleine Zahlen
Ein bisschen Statistik vorneweg:
Der Kirchenkreis Südharz hat zwischen 2008 und 2021 fast ein Drittel seiner Mitglieder verloren. Die Zahl sank um 7.500 auf knapp 18.500. Zeitgleich ging die Bevölkerungszahl im Landkreis Nordhausen um rund elf Prozent zurück.
Bei einem runden Fünftel liegt der Anteil der evangelischen Christen an der Südharzer Gesamtbevölkerung derzeit noch. 2021 waren 268 Sterbefälle zu verzeichnen, die Zahlen für 2022 werden gerade erhoben. Hinzu kommen die Austritte: 2021 summierte sich diese Zahl auf 229. Demgegenüber standen 83 Taufen.
Die Konsequenzen sind vorhersehbar. Finanziell und personell. Knapp 31 Vollzeitstellen stehen im Kirchenkreis aktuell zur Verfügung. Perspektivisch, erklärt Superintendent Andreas Schwarze, könne es nicht mehr 15 Pfarrbereiche geben. Für die Zuständigkeiten der Pfarrerinnen und Pfarrer bedeutet das rein rechnerisch eine Erhöhung der Predigtstellen, wenn man vom derzeitigen Konstrukt der Pfarrbereiche ausgeht.

Änderungen – aber wie?
Die Abfrage der ehrenamtlich Aktiven in den Gemeinden zeigt zwar ein beeindruckend großes Engagement auf vielen Ebenen, doch auch die Rückmeldung der grenzwertigen Belastung kommt längst an. „Deshalb gilt es herauszufinden, was wir in Zukunft lassen oder anders machen könnten“, gibt Superintendent Schwarze zu bedenken. Die Leitfrage müsse sein, wofür die Gemeinde vor Ort und zusammen mit anderen in der Region da sein will.
2018/19 wurde in den Zukunftswerkstätten manches Ziel formuliert und seither teilweise umgesetzt. Dauerhaft wird regionale Zusammenarbeit, ein gegenseitiger Austausch und ein Miteinander nötig sein. Nicht jeder müsse alles tun, betont Schwarze. Gemeinsam könne man mit seinen Möglichkeiten Kirche gestalten, regt er an. Der Druck zur Veränderung sei groß – und doch könne daraus eine Chance zu einer „neuen Form von Freiheit“ erwachsen.

Ellrich reagiert aktiv
Pfarrer Jochen Lenz, Pfarrbereich Ellrich, reagiert mit seinen Gemeindekirchenräten schon fast überraschend auf die Entwicklungen in den Gemeinden. Statt weniger wird es in diesem Bereich mehr Nähe geben. Möglich macht das ein neu ersonnenes Konzept.
Schwerpunktkirchen bilden Netzwerk
„Schwerpunktkirchen“ sind im Pfarrbereich entstanden: Appenrode hat die „Wanderkirche“, Sülzhayn die „Licht- und Klangkirche“, Mauderode die „Landkirche mit Herz“, Gudersleben die „Kirche der besonderen Momente“, Ellrich auf dem Frauenberg die „Komm-und-sieh!-Einkehrkirche“, Ellrich St. Johannis ist die neu eröffnete „Netzwerkkirche“, Werna die „Kirche der Dankbarkeit“, Woffleben die „Kreuz-und-quer-durch-die-Geschichte-Kirche. Gemeinsam bilden sie ein Netzwerk. Gegenseitige Lebensbegleitung mit göttlicher Hilfe und eine Gemeinschaft, die sich an der Einzigartigkeit der Nachbarn freut, kennzeichnen dieses Modell. Wissend, dass es dazu die Akzeptanz und Beteiligung der Gemeindeglieder braucht.
  • Quartalsweise sind in den Schwerpunktkirchen besonders gestaltete Themen- und Musikgottesdienste in Planung.
  • Verlässlich soll sonntags im Wechsel in Ellrich und Sülzhayn der „klassische Sonntagsgottesdienst“ gefeiert werden.
  • Was zunächst nach einem „Weniger“ klingt, ist in Wahrheit ein „Mehr“. Denn zusätzlich wird Pfarrer Lenz in Appenrode, Gudersleben, Mauderode, Werna und Woffleben jede Woche an einem festen Abend kurz vor halb sieben zu einem halbstündigen Abendgebet einladen. Die Glocken werden läuten und Anliegen, die man jederzeit in einen der Wanderstempelkästen vor den Kirchen legen kann, nimmt er ins Gebet auf. Im Anschluss wird Zeit für Gespräche sein.

Mehr Seelsorge und ein Hören auf die Lebensfragen
„Vielleicht sprechen wir nicht mehr die Sprache der Menschen. Wir müssen wieder mehr und näher bei ihnen sein“, überlegt Lenz. (Wir alle kennen den Spruch, der mit Luther und seiner Bibelübersetzung in Verbindung gebracht wird - „dem Volk aufs Maul schauen“, seine Sprache sprechen. Anmerkung der Redaktion)
Dafür muss man Zuhören, das geht nur, wenn man nah dran ist. Als Pfarrer noch deutlich weniger Gemeinden hatten, konnten sie oft bei ihren Gemeindegliedern in großer Runde mit am Geburtstagkaffeetisch oder begleitend am Krankenbett sitzen. Dabei bestand die Möglichkeit aufzunehmen, was in der Gemeinde gerade dran ist, welche Themen sie bewegt, wo Antworten gesucht werden. Für diese Besuche beispielsweise bleibt heute deutlich weniger Zeit. Die wöchentlichen Ellricher Andachten und die anschließende Gesprächszeit könnten ein Weg sein, diese Lücke zu füllen. „Wir müssen in der Predigt mehr vom Erklären zum Seelsorgerlichen kommen, also die Fragen der Zeit und Stimmungen aufnehmen und darauf reagieren. Wir müssen interessant sein, nicht im Sinne von neu und überraschend, sondern interessant für die Menschen mit ihren Lebensfragen und das nicht nur in der Predigt. Mit göttlicher Hilfe können wir doch eine Lebensbegleitung anbieten“, erklärt er sein Konzept.
Ein Modell
Dies ist nur ein Modell von vielen denkbaren und vielen, die in den Köpfen und Herzen der Haupt- und Ehrenamtlichen kreisen. Und es ist ein Modell, das 1:1 nicht mit einer noch größeren Anzahl an Gemeinden funktioniert. Aber es zeigt beispielhaft, dass die reinen Zahlen noch nichts über das geistliche Leben der Gemeinden vor Ort erzählen.
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