Meldung
Bericht vom Kreuzweg im Lager Dora
Freitag, 30. März 2012, 19:51 Uhr
Ausgeliefert wie Jesus
Im Rücken die warme Sonne, vor sich kalte Dunkelheit, so betraten am Sonntag Judika die rund 130 Teilnehmer des Ökumenischen Kreuzweges den Stollen der KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora bei Nordhausen. 1943 hieß dies für die gerade dem Waggon entstiegenen Häftlinge, hinter sich alles schützend Vertraute zu lassen, vor sich das quälend Ungewisse. Feuchte Kälte kroch damals wie heute schnell in die Knochen. Das Grauen der hier stattgefundenen nationalsozialistischen Verbrechen wurde im Stollen erstmals körperlich fühlbar. Die Worte des Pfarrers Wolf von Biela, der für die dritte Station zuständig war, gingen unter die Haut. Er berichtete, dass die 10.000 Gefangenen anfangs sogar untertage schliefen. Ohrenbetäubender Lärm durch permanente Sprengungen, feuchte Kälte, quälender Hunger, keine Sanitäranlagen, vollkommene Erschöpfung - Überlebensangst. Unvorstellbar, kaum auszuhalten, wiederholte von Biela oft. Rund ein Drittel der Häftlinge ließen in diesem KZ ihr Leben, um Hitlers Kriegsmaschinerie mit V1-Bomben und V2-Raketen zu versorgen.
Die Blasmusik der Kantorei Blasii erinnerte an diesem Ort fast an einen Häftlingschor. Mit gesenktem Blick und hochgezogenen Schultern strömten die Kreuzweg-Teilnehmer anschließend schnellen Schrittes dem Tageslicht entgegen. Man gewann den Eindruck, dass die Last der Verbrechen unserer Vorväter auf ihren Schultern drückt. So, wie das Leiden Jesu, verbunden mit dem konkreten menschlichen Leid im KZ, eine greifbare Dimension gewann.
Sonnenstrahlen wärmten beim Verlassen der Stollenanlage – jedoch nur äußerlich. Die nächsten der sieben Stationen des zweistündigen Kreuzweges verfestigten das Bewusstsein, dass hier Menschen furchtbares Unrecht geschehen ist und erbarmungslos Leid zugefügt wurde. Stationen, wie der Appellplatz – stundenlanges, willkürliches Stehen bei jedem Wetter, Ort für Prügelstrafen und Massenerhängungen. Der junge Lektor Kevin Stilzebach zog Parallelen zwischen den Menschen, die hier versammelt wurden, um gedemütigt zu werden und Jesus am Kreuz, über den sich die Vorübergehenden lustig machten und ihn provozierten.
Was mochte jetzt in dem 89-jährigen Karl Molik vorgehen, der diesen Weg schweigend unter großen Mühen mitging? Rentner Helmut Kraft aus Geinsheim, der Partnergemeinde der Kirchengemeinde Nohra, hingegen möchte reden. Er kommt seit fast 20 Jahren hierher und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den hessischen Konfirmanden alljährlich von diesem Kreuzweg zu erzählen. Auch die 19-jährige Stefanie Hänel war dabei, um zu gedenken und gleichzeitig ihre Dankbarkeit zu zeigen, dass Jesus seinen Kreuzweg für uns gegangen ist.
Letzte Station des hiesigen Kreuzweges war das Krematorium. Superintendent Michael Bornschein berichtete, dass die Asche der Toten achtlos den Hang herunter geschüttet wurde. Gras und Bäume sollten über das Unrecht wachsen. Es gab keinen Ort, um der Verstorbenen zu gedenken. Das Unrecht schrie zum Himmel, doch der strahlte Blau, wie heute. Keine Finsternis kam. `Warum schweigst du, Gott? Mein Gott, warum hast du mich verlassen?´ So mögen die Gedanken der Menschen damals gewesen sein. Doch die Hoffnung stirbt nicht zuletzt - sie ist nicht tot zu kriegen. Das Letzte sind Gottes bergende Hände. Mit diesen tröstlichen Worten verließen die aufgewühlten Kreuzweg-Teilnehmer das Gelände des ehemaligen KZs - manche in aufgeregten Diskussionen, andere still.
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